Veröffentlichungen von Urmila Goel

Das Meer rauscht und Bangladesch ist muslimisch

- Junge Südasiaten verlernen Gelerntes –

Shradha steht fasziniert am Strand, die Hose ist bereits ganz nass, immer wieder geht sie ins Wasser und weicht vor den anrollenden Wellen zurück. Die 28jährige Nepalesin sieht – und hört - zum ersten Mal das Meer. Beim Aufwachen hatte sie sich über das seltsame Geräusch gewundert. Sie war mitten in der Nacht angekommen und wusste noch nicht, dass sie direkt am Strand schlief.

Nirosha aus Sri Lanka steht mit Shradha im Wasser. Sie freut sich über deren Freude. Selbst kennt sie das Meer natürlich schon lange. Aber sie wird anderes Neues kennenlernen in den nächsten vier Tagen. Shradha und Nirosha gehören zu einer Gruppe von jungen Südasiatinnen und Südasiaten, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem Workshop nach Colombo eingeladen wurden. Zwölf engagierte PakistanerInnen und InderInnen, Bangladeschis, Nepalis und Sri Lankis sollen gemeinsam nach Deutschland reisen und bereiten sich hier unter Palmen darauf vor.

In Deutschland sollen sie deutschen Jugendlichen die Vielfalt Südasiens nahe bringen. Bevor sie das aber können, sollen und wollen sie erst einmal voneinander lernen. Sie alle sind zu Hause gesellschaftspolitisch aktiv. Ponni macht politisches Straßentheater in Indien, Shazad schreibt für eine Tageszeitung in Pakistan und Reefat arbeitet zum Thema sexuelle Gewalt gegen Frauen in Bangladesch. Sie kennen sich in ihren Heimatländern gut aus. Sie sind offen für Neues und begierig zu lernen.

Der Vorschlag eines Teilnehmers, über den Kaschmir-Konflikt zu sprechen, findet jedoch wenig Zustimmung. Die meisten fürchten, dass so eine Diskussion nur in einer Kontroverse enden kann. Die Nepalis, Bangladeschis und Sri Lankis sehen sich überwiegend nicht in der Lage, eine eigene Einschätzung der Lage beizusteuern. Sie kennen zwar die Argumente der beiden Konfliktparteien, wissen aber nicht, auf welcher Grundlage sie diese bewerten sollen. Daher wollen sie lieber Themen aufgreifen, zu denen sie beitragen können und die in die Zukunft gerichtet sind.

Nach vorn blicken kann aber nur, wer weiß, woher er kommt. So stehen am Anfang des Workshops kleine Arbeitsgruppen, in denen die jungen Südasiatinnen und Südasiaten sich über ihre jeweiligen Vorstellungen zu den anderen Herkunftsländern austauschen sollen. Die Teilnehmenden sammeln auf Flipcharts, was sie über die anderen Länder wissen oder zu wissen glauben. Ganz offen geben sie Nichtwissen zu; ruhig reagieren sie auf die zum Teil gravierenden Fehlinformationen der anderen.

Schnell fällt ihnen auf, dass sie allgemein wenig wissen über die kleineren Länder Südasiens. Die Sinhalesin Nirosha und die Tamilin Uma müssen immer wieder erklären, dass es in Sri Lanka keine Jahreszeiten gibt. Die Pakistanerin Kyla – eine Geschichtslehrerin - gesteht, dass sie erst kürzlich gelernt hat, dass Tamilisch nicht die Hauptsprache Sri Lankas ist. Vor Scham im Boden versinken möchte die linke Aktivistin Ponni aus Indien, als sie feststellt, dass Bangladesch kein mehrheitlich hinduistischer sondern ein muslimischer Staat ist. Jetzt wo sie es hört, ist das natürlich klar und sie wundert sich, warum sie je etwas anderes dachte. Kann das mit ihrer indischen Brille zusammenhängen?

Relativ gut informiert fühlen sich alle über Indien und Pakistan. Der Konflikt zwischen diesen beiden Ländern ist so dominant in der Region, dass sie viel über ihn und die beteiligten Länder erfahren. Gut informiert heißt aber noch lange nicht richtig informiert. So ist Anuj aus Nepal ganz überrascht, dass es über Mahatma Gandhi nicht nur eine Sichtweise gibt. Er ist wie so viele andere in der Überzeugung aufgewachsen, dass Gandhi so gut wie ein Heiliger war. Dass er in Pakistan für das Böse schlechthin steht, ist ihm genauso neu wie die Erkenntnis, dass auch junge Inderinnen eine sehr viel kritischere Sicht auf diesen Nationalhelden haben.

Einig sind sich alle, dass Indien die Region dominiert. Alle? Nein, nicht alle. Die Inderinnen fühlen sich auf einmal unwohl. Sie sind alle gesellschaftspolitisch engagiert, kämpfen gegen soziale Ungerechtigkeit und Intoleranz in ihrem Heimatland. Indien erscheint ihnen häufig wie ein Spielball der Weltpolitik und –wirtschaft. Sie sind fest davon überzeugt, im Interesse nicht nur der Bevölkerung Indiens, sondern auch der der anderen Länder des Südens zu handeln. Das paßt nicht zu dem Vorwurf der Dominanz. Margaret ist ganz irritiert. Ponni fühlt sich so schlecht wie noch nie in ihrem Leben.

Eigentlich ist das gar nicht nötig. Denn keiner in der Gruppe begeht den Fehler, die einzelnen Teilnehmenden für das Handeln ihrer Heimatländer verantwortlich zu machen. Niemand will Schuld zuweisen. Bei der Zusammenfassung der Arbeitsgruppenergebnisse geht es dann auch gar nicht so sehr um die einzelnen falschen Vorstellungen. Die Teilnehmenden fragen sich vielmehr, woher diese Vorurteile denn kommen und sehen die Quellen in ihrer Ausbildung und den Medien. So ist dann der einhellige Konsens "Unlearn the learned!" - verlernt das Gelernte und lernt voneinander.

Genau das haben sie dann in den nächsten Tagen auch gemacht. Die rubber seeds – jeder hatte zu Beginn des Workshops drei davon bekommen, um sie immer dann weiter zu geben, wenn etwas Neues gelernt wurde – wechseln beständig die Besitzer. Sie wandern nicht nur für neue Erkenntnisse über die Nachbarländer, sondern zum Beispiel auch als Dank für einen Crashkurs im Tischtennis.

Die jungen Südasiatinnen und Südasiaten verlassen Colombo voll mit neuen Eindrücken, in der Überzeugung, Freundinnen und Freunde gefunden zu haben und mit der Sicherheit, all diese in Deutschland wieder zu treffen. Vorher aber versammeln sie sich noch einmal am Strand. Nicht nur um mit einem Gruppenfoto die grenzübergreifende Verständigung zu dokumentieren, sondern auch, weil Shradha die Nähe des Meeres noch so lang wie möglich auskosten will.

Südasientage der Friedrich-Ebert-Stiftung | net edition: Urmila Goel | Die Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien