"Die Stellung der Frau in Indien" - Gedanken zur Berichterstattung in Meine Welt

Urmila Goel

erschienen in: Meine Welt, Heft 1, Jahrgang 31, 2014, 19-20.

In 30 Jahren Meine Welt ging es immer wieder auch um die Stellung von Frauen in Indien. Viermal wählte die Redaktion dieses Thema zum Schwerpunkt einer Ausgabe (1987/4/2, 2001/18/2, 2009/26/2 und 2013/30/1). Im Jahr 2013 reagierte Meine Welt auf die Berichterstattung und Diskussionen rund um eine brutale Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau in Delhi. 1987 wies die Redaktion in ihrem Editorial darauf hin, dass sie das Thema aufgreife, weil in Deutschland die Rolle der Frau in Indien viel diskutiert werde. Aus den Schwerpunktheften zum "Indienbild in Deutschland" (1985/2/3, 1990/7/1 und 1991/8/2-3) wird deutlich, dass Menschen aus Indien in Deutschland immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, dass Frauen in Indien unterdrückt würden. Dieser Vorwurf scheint, viele der Beitragenden in ihren Ausführungen geprägt zu haben. Insbesondere jene, die in Deutschland lebten, setzten sich in ihren Beiträgen ex- oder implizit mit dem in Deutschland vorherrschenden Bild der unterdrückten indischen Frau auseinander.

Dabei verfolgten sie zumindest drei Strategien: Erstens, erklärten viele Beitragende, warum die Situation der Frauen in Indien und (West-)Deutschland nicht einfach vergleichbar sei und deswegen (west-)deutsche Vorstellungen von Gleichberechtigung nicht übertragbar wären. Sie verwiesen dabei auf verschiedene historische Entwicklungen sowie auf die Einflüsse von Kultur, Religion und des wirtschaftlichen Entwicklungsstands. Zweitens, bemühten sich viele Beitragende zu widerlegen, dass (alle) indischen Frauen unterdrückt seien. Sie porträtierten erfolgreiche Frauen und berichteten über fortschrittliche gesetzliche Regelungen in Indien. Drittens, beschrieben Beitragende, welche Entwicklungsschritte nötig wären, um Gleichberechtigung in Indien zu fördern. In vielen Beiträgen lassen sich Elemente aus diesen verschiedenen Strategien gleichzeitig wiederfinden.

Allen gemeinsam ist, dass sie, indem sie auf den Vorwurf der Unterdrückung reagierten, diesen als prinzipiell gerechtfertigt anerkannten. Sie beschäftigten sich nicht mit den in (West-)Deutschland liegenden Ursachen des Vorwurfs, sondern folgten dem Vorwurf nach Indien und diskutierten ihn mit Bezug auf die Verhältnisse dort. Indem sie über Indien diskutierten und nicht über Frauenrechte in Deutschland, folgten sie implizit der (west-)deutschen Setzung, dass Frauen in (West-)Deutschland emanzipiert seien und es dort keinen Diskussionsbedarf mehr gäbe.

Die Beitragenden hinterfragten auch nicht den Orientalismus, der dem Vorwurf zugrundelag. Mit Orientalismus wird nach Edward Said die europäische Konstruktion des Orients bezeichnet. Said argumentiert, dass Bilder über den Orient produziert werden, um Europa zu definieren. In den Orient wird Ungewolltes projiziert, um so Europa als überlegen darstellen zu können. Der Orientalismus diente damit auch zur Rechtfertigung von Kolonialismus. Dabei ging es auch immer wieder um die Frauenfrage. Gayatri Spivak argumentiert, dass die Kolonialherrschaft auch damit gerechtfertigt wurde, dass die Kolonialmacht "die braunen Frauen vor den braunen Männern retten" müsse. Wenn in (West-)Deutschland Menschen über Indien sagten, dass dort Frauen unterdrückt würden, dann schloss dies also an orientalistische Argumentationsmuster an. Dies umso mehr als die wenigsten derer, die diesen Vorwurf äußerten, sich wirklich mit indischen Lebensverhältnissen auskannten und sich im eigenen Land kaum für Frauenrechte interessierten.

Die Zeitschrift Meine Welt scheint mir insgesamt darauf ausgerichtet zu sein, ein möglichst harmonisches Miteinander von Menschen aus Deutschland und Indien zu fördern. Dazu scheint es nicht zu passen, offene Kritik aneinander zu formulieren. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft - so scheint es mir - soll davon überzeugt werden, dass Menschen aus Indien eine Bereicherung für Deutschland sind. Sie soll aber nicht damit konfrontiert werden, dass es Machtungleichheiten zwischen (Menschen aus) Deutschland und Indien gibt, die sich zum Beispiel in orientalistischen Bildern widerspiegeln. Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft sollen sich - so ist mein Eindruck - nicht angegriffen fühlen und so wurden und werden ihre Bilder und Vorwürfe nicht grundsätzlich hinterfragt. So ließe sich erklären, warum in der Meine Welt nicht nachgefragt wurde, wie es denn um die Frauenrechte in Deutschland stand und wieso sich die Kritisierenden nun gerade für Frauenrechte in Indien interessierten. Es wurde stattdessen auf die Kritik eingegangen.

Dabei ging der Blick grundsätzlich nach Indien. Aussagen über das Leben der Inderinnen in Deutschland blieben meist recht allgemein. Ich habe keinen Artikel und erst recht kein Schwerpunktthema gefunden, das sich mit den Geschlechterrollen in den Familien der Krankenschwestern aus Kerala beschäftigt hat. Dabei wäre hier viel zu berichten und zu diskutieren gewesen. In den meisten Familien waren die Frauen die Hauptverdienerinnen. Sie ernährten nicht nur ihre Kernfamilie in Deutschland, sondern unterstützten auch ihre Herkunftsfamilien in Kerala und häufig dazu auch noch die Herkunftsfamilien ihrer Ehemänner. Sie waren voll berufstätig, trugen große Verantwortung und machten Karrieren. Ihre Ehemänner mussten sich hingegen - weil das deutsche Recht ihnen in den ersten Jahren eine Arbeitserlaubnis verweigerte - in einer anderen Rolle ausprobieren. Die meisten kümmerten sich zumindest in der Anfangszeit um den Haushalt und die Kinder. In Interviews erzählten mir einige Kinder von Krankenschwestern, dass sie dadurch ihren Vätern sehr nahe waren. Diese Entwicklungen hätten in der Meine Welt als Gegenbild zu den deutschen Vorwürfen der unterdrückten indischen Frau und dem patriarchalen indischen Mann gesetzt werden können. Den Vorwürfen der Mehrheitsgesellschaft hätte widersprochen werden können. Die Geschlechterrollen in indischen Familien (auf jeden Fall jenen in Deutschland) waren nicht so starr, wie ihnen vorgeworfen wurde. Sie waren sogar dynamischer als in den westdeutschen Familien, wo zumeist der Mann Hauptverdiener war und die Frauen zuhause blieben. Die Frage der Unterdrückung der Frauen hätte so auch nach West-Deutschland zurück gespiegelt werden können. Aber nichts davon findet sich in der Zeitschrift. Wenn über den Rollenwechsel geschrieben wurde dann als Problem. Es wurde angedeutet, dass der ungewollte Wechsel Spannungen in den Familien produzierte und zum Teil in Gewalt endete. Auch dies wäre ein Thema gewesen, dass in der Zeitschrift ausführlicher hätte diskutiert werden können. Meine Welt hätte genutzt werden können, um diese Probleme zu bearbeiten, um Umgangsweisen zu diskutieren und um Lösungen zu finden. Die Zeitschrift hätte ein Medium sein können, um sich ganz konkret mit Dynamiken in Geschlechterrollen, deren Chancen und Risiken zu beschäftigen.

Als Wissenschaftlerin frage ich mich, warum dieses Thema kaum verhandelt wurde. Ich frage mich, warum in der Frage von Frauenrechten vor allem den deutschen Bildern über Frauenunterdrückung gefolgt wurde. Eine einfache Antwort gibt es dazu sicher nicht. Meine Forschung ist auch noch nicht weit genug fortgeschritten, um fundierte Ergebnisse liefern zu können. Zu diesem Zeitpunkt kann ich nur Vermutungen formulieren: Es mag sein, dass es einfacher war und ist über die Situation in Indien zu reden als über jene in Deutschland. Indien war und ist für alle weit weg von ihrem Alltag. Darüber ließ und lässt sich distanziert sprechen. Die Situation in Deutschland hingegen geht ganz nah. Da ist der eigene Alltag betroffen. Die Auseinandersetzung damit mag konflikthafter und schmerzhafter sein, als allgemein über die Lage von Frauen in Indien zu schreiben. Es mag auch sein, dass der tatsächlich erfolgte Wandel in den Geschlechterrollen vielen Beitragenden viel zu weit ging. Dass die meisten gerne ein Leben führen wollten, in dem Männer und Frauen unterschiedliche Rollen erfüllen. Es mag sein, dass sie deswegen nicht zu viel über die real existierenden Abweichungen sprechen wollten und sie nicht zum Widerlegen der deutschen Vorwürfe nutzen wollten. Das wiederum würde für mich bedeuten, dass die Beitragenden zwar Frauen (in Frauenrollen) wohlwollend gegenüber treten wollten, aber dabei das Patriarchat nicht in Frage stellen wollten. Tatsächlich gab es nur wenige feministische Stimmen in den Ausgaben der Meine Welt, die einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel forderten. Es scheint mir, dass es vielen Beitragenden vor allem darum ging, den in Deutschland immer wieder gehörten Vorwurf, dass in Indien Frauen unterdrückt werden, entgegen zu treten. So sollte das Bild von Indien in Deutschland aufgewertet werden.

Für die Zukunft der Meine Welt wünsche ich mir, dass sie weniger harmonisch argumentiert. Dass Probleme offensiver formuliert werden. Dass Konflikte offener ausgetragen werden. Dass ungleiche Machtverhältnisse (wie Orientalismus oder das Patriarchat) angesprochen werden. Das würde einen wirklichen Dialog zwischen unterschiedlichen Positionen ermöglichen.


Urmila Goel, Kultur- und Sozialanthropologin forscht zu Migration, Rassismus und Fragen von Geschlecht und Sexualität. Mehr Informationen auf www.urmila.de Publikation zu Geschlechterdynamiken in den Familien der Krankenschwestern: Goel, Urmila (2013), "'von unseren Familien finanziell unabhängig und weit weg von der Heimat' - Eine ethnographische Annäherung an Migration, Geschlecht und Familie" in: Thomas Geisen, Tobias Studer und Erol Yildiz (Hrsg.), Migration, Familie und soziale Lage - Beiträge zu Bildung, Gender und Care, Wiesbaden: Springer VS, 251-270.

© Urmila Goel, www.urmila.de 2014