Veröffentlichungen von Urmila Goel

Von Autos, Nazis und Islamophobie
Diskussionen in einer pakistanischen Schule

erschienen in: Südasien 2/03, 54. (Text als pdf)

Die Sechstklässler in einer privaten Schule in Islamabad sind ganz aufgeregt. Es passiert schliesslich nicht jeden Tag, dass ein Gast in den Unterricht kommt. Und dazu noch eine indische Deutsche. Sie sitzen gespannt auf ihren Stühlen als ich herein komme. Kaum hat die Lehrerin mich vorgestellt und um Fragen gebeten, schnellen die Finger in die Luft. „Ist es wahr, dass es in Deutschland keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt?“ Mit der obligatorischen Frage nach den Autos geht es – wie auch in den USA - los. Aber dabei bleibt es nicht, die jungen Pakistani wollen mehr, viel mehr über Deutschland wissen. Um den Reichtum Deutschlands zu erklären, mache ich einen kleinen Umweg über die industrielle Revolution. Von da ist es nur ein kurzer Weg, um zu erklären woher der gute Ruf Deutschlands für Technik kommt. Meinen eigener Tagesablauf soll ein bisschen das alltägliche Leben in Deutschland nahe bringen. Überrascht werde ich durch die Frage des Klassenprimus nach den Auswirkungen von Tschernobyl. Seine Klassenkameraden wissen sicher nicht, worum es gerade geht. Sie lassen sich aber nichts anmerken, denn solche Fragen sind sie von ihm gewohnt. Die Fragen gehen noch ein Stück weiter zurück in der deutschen Geschichte. Die Nazis und der Mord an den Juden sind auch diesen jungen Pakistanis ein Begriff. Zu den Wiedergutmachungszahlungen an Israel will einer, es muß wohl wieder der Primus sein, was wissen. Es interessiert sie noch welcher Sport in Deutschland populär ist und welche Währung wir haben. Welche Unterschiede es zwischen Indien und Deutschland gibt, fragen sie mich. Da ich eine Antwort anbieten muss, sage ich, dass in Deutschland der Einzelne im Mittelpunkt steht, während in Indien immer zu erst die Familie zählt. Erläutern will ich das daran, dass in Deutschland das Einzelzimmer einen hohen Wert hat, während in Indien das Zusammenwohnen in einem Zimmer sogar gewollt ist. Das Beispiel ist aber schlecht gewählt für diese Klasse. Eine kurze Umfrage ergibt, dass die meisten dieser Kinder der High Society Einzelzimmer haben. Dass es aber in Deutschland nur eine Sprache gibt und dass diese auch noch Deutsch und nicht Englisch ist, verwundert sie sehr. Zum Schluß der Stunde frage ich, was sie denn von Indien denken. Da fällt ihnen viel positives ein. Bei den Cricketspielern verstehe ich es, aber warum indische Autos etwas besonderes sein sollen, bleibt mir ein Rätsel.

Die Dreiviertelstunde ist wie im Flug vergangen. Ich hätte nie gedacht, dass eine 6. Klasse so offen und lebendig ist. Viele waren so aufgeregt, dass sie ihre Frage schon vergessen hatten, als sie endlich dran waren. Kurz darauf hatten sie aber eine neue. So macht Erzählen Spass.

„Sie sind also Inderin?“, damit werde ich in der 7. Klasse begrüßt. Der Ton ist nicht gerade freundlich. Die eifrige Fröhlichkeit der Sechstklässler fehlt in diesem Klassenzimmer. Der junge Pakistani will mich provozieren. Meine Verneinung der Frage akzeptiert er nicht, denn mein Name sei doch indisch. Seine Klassenkameraden hören ihm zu, lassen ihn den Wortführer sein. Sein Tonfall bleibt, die provokante Art der Fragen auch. Es geht nicht wie bei den Jüngeren um Autos und Alltagsleben sondern um politische Einstellungen. Ich werde mit der deutschen Nazivergangenheit konfrontiert. Sie fragen mich, ob mir Indien oder Deutschland besser gefällt. Sie wollen wissen, was ich über die Muslime denke und warum die Deutschen islamophob sind. Auch wenn die Stimmung ganz anders ist als in der 6. Klasse, fühle ich mich auch hier wohl. Die Schüler fragen hart, aber sie hören auch zu, und sie können sehr abstrakten Argumentationen folgen. Ich lasse mich nicht auf die Kategorisierungen ihrer Fragen ein. Anstatt dessen erkläre, warum ich nicht die Inder und die Deutschen vergleichen kann, und dass ich über die Muslime als Gruppe gar nichts denke. Immer mehr aus der Klasse beteiligen sich. Im Gegensatz zu den Sechstklässlern stehen die Fragen dabei nicht einzeln nebeneinander, sie bauen aufeinander auf. Die Schüler und Schülerinnen greifen auf, was vorher gesagt wurde, entwickeln es weiter. Als ich auch hier gegen Ende der Stunde frage, was sie denn von Indien halten, kehrt erst einmal Ruhe ein. Dann gibt es ein paar zaghafte positive Äußerungen. Ihre Lehrerin nimmt ihnen das nicht ab und fordert sie auf, ehrlich ihre Meinung zu sagen. Und die kommt dann auch. Die meisten mögen Indien nicht – wegen Kashmir, weil die Inder unschuldige Menschen töten, weil sie Muslime umbringen. Zum erstenmal höre ich diese Ablehnung offen in Pakistan und wir diskutieren darüber. Es ist die beste und ehrlichste Diskussion meines Aufenthaltes. Ich bekomme das Gefühl, dass diese jungen Pakistani sehr wohl schon viele Vorurteile haben, aber noch offen und neugierig genug sind, auch andere Perspektiven kennenzulernen und bei Bedarf auch ihre Meinung zu ändern.

Die Klingel beendet die Stunde. Die Klasse lässt mich aber nicht gehen, ohne noch eine Auskunft von mir zu bekommen. Auch sie wollen wissen, wie es denn mit den Autos in Deutschland ist.



© Urmila Goel, www.urmila.de 2003