Veröffentlichungen von Urmila Goel

Sexualität ist kein Thema

erschienen in: L-MAG, 2/2005, 28-29. (Text als pdf)

Seit 1998 wächst in Indien eine queere Bewegung, die gegen ein heterosexuelles Zwangsleben kämpft. Doch der Druck zu heiraten, ist nach wie vor groß.

Eine Millionen Stimmen für selbst bestimmte Sexualität will Voices against 377 in ganz Indien sammeln. Hinter der Kampagne steht ein breiter Zusammenschluss von queeren, Menschenrechts- und Frauenorganisationen und die Überzeugung, dass keine Organisation alleine stark genug ist. Das Endziel ist die Abschaffung des Paragraphen 377, der noch aus viktorianischer Zeit stammt und unnatürlichen Sex unter Strafe stellt. Es kommt selten zu Verurteilungen, aber der 377 wird immer wieder als Druckmittel gegen Homosexuelle benutzt. Polizisten verhaften Schwule und erpressen mit Verweis auf 377 finanzielle oder sexuelle Zuwendungen. Familien schüchtern ihre Töchter oder Söhne mit dem Verweis auf das Gesetz ein. Dabei ist 377 nach Ansicht von Voices verfassungswidrig.

Frauen liebende Frauen kaum vorstellbar

Sexualität, und insbesondere die weibliche, ist in Indien kein Thema über das geredet wird. Frauen, die Frauen lieben, sind daher für die meisten Inderinnen noch nicht einmal vorstellbar. Hijras - die man nach westlichen Kriterien am ehesten als Transgender bezeichnen kann - hingegen haben einen, wenn auch nicht geachteten, Platz in der Gesellschaft. Nicht zuletzt durch Kampagnen gegen HIV/AIDS werden Schwule inzwischen wahrgenommen. Männliche Sexualität ist sowieso vorstellbarer als weibliche.

Für Lesben ermöglicht das Schweigen zum einen viel Spielraum ihre Sexualität im Verborgenen zu leben, zum anderen macht es eine öffentliche Anerkennung nahezu unmöglich. Der Druck ein heterosexuelles Normleben zu führen ist auch für Heten massiv. Indische Eltern, unabhängig davon welcher Religion sie angehören, haben die Aufgabe ihre Kinder zu verheiraten, die Hochzeit gilt als das wichtigste Ereignis im Leben. Wenn Eltern dieser Aufgabe nicht nachkommen, stehen sie unter dem Druck ihrer Verwandten, Freunden und Bekannten. Diesen Druck geben sie auf ihre Kinder weiter, die dem nur mit viel Kraft widerstehen können. Die Weigerung zu heiraten, bringt die wohl geordnete Welt durcheinander. Ein Coming Out macht alles noch schlimmer. Viele Familien versuchen daher durch psychiatrische und medizinische Behandlung ihre Kinder von Homosexualität zu heilen.

Sheela und Sree Nandu (v.li.) gingen als Frau und Mann landesweit durch die MedienComing-out aus der Not heraus

Viele Schwule und Lesben halten den Druck nicht aus. Die meisten fügen sich in ein Hetero-Leben. Zu viele töten sich. Einige stehen selbstbewusst zu ihrer Liebe und heiraten. Gleichgeschlechtliche Ehen sind in Indien zwar nicht anerkannt, aber immer wieder suchen sich Frauenpaare Priester, die sie trotzdem trauen. Die Medien berichten zunehmend. Anfang 2004 sind es Sheela und Sree Nandu aus Kerala, deren Geschichte aufgegriffen wird. Sie haben sich zu diesem absoluten Coming Out entschieden, als ihnen keine andere Wahl außer Selbstmord mehr blieb. Mittlerweile helfen sie anderen Lesben in Not, bieten ein Notfalltelefon und Unterkunft an. Wie die meisten anderen Lesben in den Medien sind auch Sheela und Sree Nandu ein Butch-Femme-Paar. In fast allen Artikeln wird von dem ‚Mann’ und der ‚Frau’ in der Beziehung gesprochen, die Fotos unterstützen dieses Stereotyp.

Letztes Jahr sorgte der Film Girlfriend für Aufruhr. Die rechten Hindu-Nationalisten liefen Sturm, weil in ihm eine Lesbe auftritt. Die queere Szene protestierte, weil die Lesbe als Psychopatin, die als Kind missbraucht wurde und daher Männer hasst, dargestellt wird. Sturm gelaufen waren die Hindu-Nationalisten schon 1998 gegen den Film Fire, der erste indische Film mit einer lesbischen Beziehung. Sie rissen die Plakate ab und griffen Kinos an. Queere Aktivistinnen wollten diese Zensur durch die Rechten nicht durchgehen lassen und wehrten sich zum ersten mal öffentlich. Das war der Anfang der lesbischen Bewegung, immer mehr Gruppen bildeten sich in der Folge, immer mehr geschützte Räume wurden geschaffen.

In den Metropolen und einigen kleineren Städten gibt es jetzt Organisationen wie jene von Sheela und Sree Nandu, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, etc. einsetzen. Sie bieten Notfalltelefone und Selbsthilfegruppen an. Sie publizieren, machen Filme, organisieren Veranstaltungen. Sie diskutieren, vernetzen sich und entwickeln Konzepte, die für Indien tragfähig sind. Das tun sie in einer nach wie vor homophoben Gesellschaft, in der die meisten zivilgesellschaftlichen Gruppen, politischen Parteien und Prominenten zum Thema Homosexualität am liebsten schweigen.

Republik Indien

Einwohner: ca. 1,1 Mrd.
Hauptstadt: Neu Delhi (14 Mio. Einwohner)
Sprachen: Hindi und Englisch, sowie weitere 21 anerkannte Sprachen
Religionen: Hinduismus (80 %), Islam (13) Christentum (2%), Sikhismus (1,8%) sowie Buddhismus, Jainismus, Parsen u.a.
Größe des Landes: gut neun mal die Fläche Deutschlands

 

© Urmila Goel, www.urmila.de 2005