Beate Flechtker, Alice Stein, Urmila Goel

Eine unmögliche Verbindung? Rassismuskritische Bildung und entwicklungspolitische Institutionen

erschienen in: BER (Hrsg.), Develop-mental Turn. Neue Beiträge zu einer rassismuskritischen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit, Berlin, 68-72.

„Solange ein herrschender Status quo reproduziert wird, indem subtil und explizit weiterhin Ausschließungen praktiziert werden, die der Reproduktion der nationalen Elite dienlich sind, lässt die singuläre Integration von einzelnen Stimmen aus minorisierten Gruppen die strukturelle Ungleichheit unberührt. Des Weiteren wird über die Inkorporierung dieser Stimmen und die Einbindung von Debatten zu Transnationalität, Postkolonialität und Intersektionalität der Anschein der Internationalisierung (…) erzeugt“ (Guitiérrez Rodriguez 2011, S. 99).

Immer mehr Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland zeigen Interesse an Ansätzen der Rassismuskritik, der postkolonialen Theorie und der kritischen Auseinandersetzung mit Weißsein. Ausschreibungen an potentielle Seminarleitungen werden entsprechend formuliert. Trainer_innen sollen besondere Sensibilitäten für und Qualifikationen zu den Themen mitbringen sowie ihre Seminarinhalte entsprechend gestalten. People of Color (PoC), Schwarze und Migrant_innen werden als Trainer_innen besonders angesprochen.

Unsere Erfahrungen als Trainer_innen in diesem Bereich zeigen aber, dass das Bekenntnis zu und Bemühen um rassismuskritische Bildungsarbeit nicht ausreicht, wenn in deren Umsetzung Rassismen reproduziert und die Auseinandersetzung mit den eigenen rassistischen Strukturen verweigert wird. Oder, um es in Worten der interkulturellen Öffnungspolitiken auszudrücken: Es reicht nicht, wenn das „Outreach“ klappt, d.h. Akteur_innen erreicht werden, und gleichzeitig das „Retention“, d.h. das Halten der Akteur_innen in der Organisation, nicht gewährleistet werden kann. Auf diese Weise bestätigt sich die These von der interkulturellen Öffnung als „ein typischer Container-Begriff, der den einen ein kritisches gesellschaftspolitisches Potential verspricht und den anderen doch nicht weh tut“ (Foitzik/Pohl 2009, S. 61). Im Folgenden werden wir diskutieren, was zu den Versäumnissen in Bezug auf „Retention“ führen kann.

Zum Beginn: Eine Utopie

Beginnen wir – ganz im Sinne einer Zukunftswerkstatt – mit einer Utopie: Eine Institution der Entwicklungszusammenarbeit erkennt im rassismuskritischen Ansatz eine Möglichkeit, Machtverhältnisse zu reflektieren und Begegnung auf Augenhöhe zu gestalten. Sie versucht so in ihrem Wirkungsfeld ungleiche globale Nord-Süd-Verhältnisse in Frage zu stellen und zu verändern. Sie weiß, dass Rassismus ein gesellschaftliches Verhältnis ist, alle Menschen sozial positioniert und selbst darin verstrickt sind. Sie will deswegen einen Prozess im Sinne einer „erweiterten politischen Suchbewegung“ (Dean/Stützel 2009, S. 36) zusammen mit allen – zumindest direkt – Beteiligten angehen, denn sie knüpft an die Sichtweise an, „dass Erfahrungen der Dominanz und der Diskriminierung immer auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind.“ Daher schafft sie „Räume für die Auseinandersetzung mit spezifischen Machtpositionen“ (ebd.). Und sie weiß, dass sie vor großen Herausforderungen steht, denn sie muss ihre Komfortzone verlassen und ihre bisherige, scheinbar „neutrale“ institutionelle Praxis mit in Frage stellen. Sie ist bereit, sich auf einen Prozess einzulassen, in dem es kein „richtig“ und kein „falsch“ gibt, kein Rezeptbuch, keine Strickanleitung, keine abzuhakende Checkliste – vielmehr eine Bewegung der Suche nach der „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault), ganz im Sinne emanzipatorischer politischer Bildung. Also begibt sie sich auch auf die Suche nach erweiterten eigenen Handlungsspielräumen, um sich z.B. nicht von einer Sachzwanglogik überwältigen zu lassen und damit vom Geldgeber regiert zu werden. Sie weiß, dass sie einen langen Atem, Verbündete, Begleitung und Beratung und nicht zuletzt den Willen braucht, sich selbst zu verändern.

In dieser Utopie steckt Einiges, was für die Umsetzung als good practice richtungsweisend sein kann. In der folgenden Aufzählung stellen wir der good practice ihre bad practice-Alternativen gegenüber:

Die Umsetzung von good practice-Ansätzen verlangt neben dem Bekenntnis zu rassismuskritischer Bildungsarbeit eine permanente selbstreflexive Anstrengung der Institutionen und ihrer Mitarbeitenden, die Bereitschaft zum produktiven Umgang mit Konflikten sowie den Einsatz von Ressourcen.

Die bad practice-Reaktionen wiederum ergeben sich aus Logiken des institutionellen Handelns, der Tendenz zur Bewahrung des Status Quo sowie der unzureichenden Bereitstellung von Ressourcen. Im Folgenden beschreiben wir einige dieser institutionellen Barrieren für die Umsetzung rassismuskritischer Bildungsarbeit, die uns in unserer Praxis begegnet sind.

Selektive Transparenz

Aufträge werden ungenau formuliert, Anfragen werden allgemein gehalten, institutionelle Ansprechpartner_innen für inhaltliche und vertragliche Absprachen sind unterschiedlich, Hierarchien und Zuständigkeiten in den Institutionen sowie die Rolle von Honorarmitarbeiter_innen und externen Bildungsarbeiter_innen werden nicht transparent gemacht: Solange Harmonie herrscht, kann eine solche intransparente Personalführung mit scheinbar uneindeutigen Hierarchien funktionieren, kann sich jede_r irgendwie damit arrangieren und sogar das Gefühl von Gestaltungsfreiheit haben. Im Konfliktfall jedoch wirkt die Intransparenz machtvoll gegen die weniger mächtige Position. Sie kann sich auf niemanden und nichts wirklich berufen. Sie ist der Definitionsmacht der Institution ausgeliefert.

Gleiches gilt für die Definition dessen, was und wer intern und was und wer extern sind. Solange die Zusammenarbeit für die Institution konfliktfrei verläuft, werden externe Mitarbeitende als Teil des Teams angesprochen, um die Corporate Identity zu stärken und den größtmöglichen Einsatz der Externen zu ermöglichen. Wenn es aber zu einem Konflikt kommt, die externen Mitarbeitenden störend wirken, dann kann die Institution ihnen leicht diesen Status des Dazugehörens entziehen und sie auf ihre externe Position (mit möglichen rechtlichen Konsequenzen) verweisen. So kann die Institution sowohl externe Ressourcen ausnutzen, als auch diese zum Schweigen bringen. Da in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit deutlich mehr Schwarze, PoC und Migrant_innen als externe freischaffende Seminarleiter_innen, Trainer_innen und Bildungsreferent_innen anzutreffen sind als in sicherer Festanstellungen mit Einfluss auf strukturelle Gegebenheiten und institutionelles Handeln bei Institutionen der entwicklungspolitischen Bildung, werden über diese Disziplinierungsmechanismen rassistische Ausschlüsse reproduziert.

Der lange Hebel

Zur Bildung von Corporate Identity und zum Ausnutzen von Ressourcen wird das Gefühl geschaffen, dass alle Mitarbeitenden (haupt-, neben-, honorar- und ehrenamtlich) in einem Boot sitzen. Niemand meldet sich als Kapitänin oder erster Offizier, im So-tun-als-ob-alle-gleich-sind schrubben alle das Deck, kochen in der Kombüse, kümmern sich um alles – nur nicht um die Navigation, also die Führung. Mit der Selbstdefinition als gut und dem Wunsch nach Harmonie scheint sich eine machtvolle Position an der Spitze der Hierarchie nicht zu vertragen und wird deswegen verleugnet. Diese Verleugnung erfolgt allerdings nur solange, bis die Institution oder Mitarbeitende ihre Interessen gefährdet sehen und sich dann auf ihren Führungsanspruch berufen.

Im Falle von Rassismuskritik werden die Hierarchien dann betont und ausgenutzt, wenn die kritische Perspektive gefährlich für das Selbstverständnis der Institution und deren Mitarbeitende wird und sie deshalb Grenzen der Kritik bestimmen will. Dieses interessengeleitete situative Ausnutzen von institutioneller Macht macht eine gemeinsame, gleichberechtigte politische Suchbewegung unmöglich.

Mitarbeitende von Institutionen auch der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit neigen dazu, ihre eigene Machtposition gegenüber Honorarkräften, externen Mitarbeitenden und Untergebenen zu leugnen und zu verlangen, dass sie als Gleiche (und nicht Mächtigere) behandelt werden. Es wird so getan, als ob sich alle auf gleicher Augenhöhe begegneten, obwohl die einen von den anderen abhängig sind und Gestaltungsmacht ungleich verteilt ist. In diesem Kontext kommt auch pädagogisches Vokabular wie Vertrauen und Wertschätzung zum Einsatz, um Kritik am eigenen Handeln sowie an strukturellen Machtungleichheiten abzuwenden. Entscheidungsträger_innen verweigern sich der Auseinandersetzung mit den strukturellen Machtungleichheiten sowie eigenem machtvollen Handeln und beanspruchen stattdessen für sich selbst Vertrauen und Wertschätzung.

Vertrauen ist eine Ressource, die zwischen Mitarbeiter_innen finanzkräftiger Institutionen und von auf Einkünfte angewiesenen Einzelpersonen ungleich vorhanden ist. Die vom Auftrag abhängige Person muss der Institution weitgehend vertrauen, da sie Vertrags- und Arbeitsbedingungen in der Regel nicht grundsätzlich mitgestalten kann. Die Institution ist hingegen frei darin, wem sie Vertrauen entgegen bringt und wem sie es entzieht. Der Vertrauensentzug wiederum kann existentielle Folgen für die abhängige Person haben.

Anrufung von Harmonie

Die Illusion von Gleichheit zwischen Arbeit- bzw. Auftraggeber_in und Auftrag- oder Arbeitnehmer_in können Nähe und Distanz im Arbeitskontext durcheinander bringen. Solange die Stimmung gut ist, kann ein harmonisches Miteinander funktionieren und zur allgemeinen Zufriedenheit führen. Die Harmonie darf aber nicht gestört werden und schon gar nicht durch den Verweis auf Machtungleichheiten.

In einer übertriebenen Auslegung subjektorientierter Bildungsarbeit werden alle Störungen auf Beziehungsebene und auf der Basis von Befindlichkeiten verhandelt. Diejenigen, die strukturelle Konflikte thematisieren, werden dabei zu Spielverderber_innen und Harmoniestörer_innen gemacht. Anstatt sich dem strukturellen Konflikt zuzuwenden, werden Konflikte personalisiert und die Machtungleichheiten geleugnet. In einem solchen Kontext kann Rassismus nicht thematisiert werden, denn Rassismuskritik setzt voraus, Verletzungen und Konflikte einzuplanen, benennen zu dürfen und bearbeiten zu wollen.

Sachzwang- und Effizienzlogik

Eine institutionelle Auseinandersetzung mit Rassismuskritik lässt sich zudem durch Verweis auf sogenannte Sachzwänge und die Notwendigkeit von Effizienz abwehren. So werden verzögerte Reaktionen auf institutionelle Rassismusreproduktion und rassistische Angriffe mit Überarbeitung und Zeitdruck der zuständigen Mitarbeitenden gerechtfertigt. Von Rassismuskritik abweichende Prioritäten im institutionellen Handeln werden mit Verweis auf die Vorgaben der Finanzgeber plausibel gemacht.

Besonders wenn entscheidungsbefugte Hauptberufliche sich gerade in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Rolle im Rassismus befinden, noch keinen souveränen Umgang mit ihrer machtvollen Position gefunden haben und sich in einem individuell verletzlichen Zustand, aber einer institutionell mächtigen Position befinden, kann es fatale Folgen haben, wenn sie in ihrem eigenen institutionellen Handeln kritisiert werden. Sie können sich bei und trotz aller Bemühungen um rassismuskritisches Handeln individuell angegriffen und missverstanden fühlen. Sie verfügen möglicherweise sogar über das Wissen, dass ihr Handeln bedenklich ist, müssen dieses Wissen aber abwehren, da sie nicht damit umgehen können und geraten in die Gefahr ihre institutionelle Macht auszunutzen, um eine weitere Auseinandersetzung mit ihrer eigenen problematischen Rolle abzuwehren, solange sie nicht selbst deren Tempo und Ausmaß bestimmen.

Rassismuskritik als Dienstleistung

Das Einkaufen von Rassismuskritik als Dienstleistung von externen Honorarkräften ermöglicht es der Institution, der Rassismuskritik beliebig Grenzen zu setzen und jederzeit den Prozess der Auseinandersetzung abbrechen zu können. Wenn die externen Honorarkräfte auf wiederkommende Aufträge der Institution finanziell angewiesen sind, ist es für sie daher angeraten, dass sie in ihrer Rassismuskritik nicht zu weit gehen, sich selbst beschränken, um nicht den Unwillen der Institution zu riskieren. So kann es zu einer Einschränkung der Kritik kommen, ohne dass die Institution aktiv intervenieren muss. Für Schwarze, PoC und Migrant_innen, die als Honorarkräfte arbeiten, bedeutet dies eine doppelte Verletzlichkeit: Einerseits sind sie finanziell abhängig, andererseits sind sie jederzeit der Gefahr von Rassismuserfahrungen ausgesetzt.

Ans eigene Leder

Diese institutionellen Handlungsmuster sind überwiegend nicht spezifisch für den Kontext von Rassismuskritik. Es sind übliche Handlungen, um die Macht der Institution zu erhalten oder auszubauen. Im Kontext von rassismuskritischer Bildungsarbeit können sie dazu genutzt werden, um die Auseinandersetzung mit strukturellen Ungleichheiten zu verhindern. In der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit sind solche verhindernden Handlungen besonders wahrscheinlich, da eine rassismuskritische Perspektive die Legitimation von Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit grundsätzlich in Frage stellt und damit auch die agierenden Institutionen. Solange diese Kolonialismus und Rassismus als konstitutiv verleugnen und damit fortführen, muss Rassismuskritik als grundlegende strukturelle Kritik von entwicklungspolitischen Institutionen abgewehrt werden.

Institutionen, die nicht bereit sind, die eigene Legitimation grundsätzlich zu hinterfragen, müssen Rassismuskritik auf die Teilnehmenden ihrer Bildungsarbeit beschränken. Da Rassismuskritik aber gerade nicht individuelles Verhalten, sondern strukturelle Ungleichheiten thematisiert, stellt sich hier ein Grundproblem für rassismuskritische Bildungsarbeit: Kann in einer Institution, die die eigene Verstrickung in Rassismus leugnet, überhaupt glaubwürdige rassismuskritische Bildungsarbeit gemacht werden?

Rassismuskritik hat zurzeit Konjunktur auf dem Bildungsmarkt und ist in entwicklungspolitischen Organisationen und Institutionen en vogue. Sie bleibt allerdings Kosmetik und dem Risiko ausgesetzt, nicht nur ihr kritisches Potential zu verlieren, sondern durch Inkorporation Teil der Herrschaftsstrategie zu werden, solange Nord-Süd-Politiken nicht umgestaltet werden. Rassismuskritische Bildungsarbeit muss die Machtverhältnisse hinterfragen, angefangen bei den Strukturen.

Konsequenzen für macht- und rassismuskritische Bildungsarbeit

Aus diesen grundlegenden Überlegungen über die notwendige (Un)Möglichkeit von glaubwürdiger Rassismuskritik im Auftrag von entwicklungspolitischen Institutionen leiten wir folgende Maßnahmen ab:

In keinem Fall aber darf die Konsequenz aus unserer Kritik sein, dass die Institution sich aufgrund der Unmöglichkeit der rassismuskritischen Auseinandersetzung verweigert und zum Schutz vor Rassismuserfahrungen Schwarze, PoC und Migrant_innen nicht einstellt. Die Institutionen müssen sich ganz im Sinne der am Anfang des Artikels formulierten Utopie auf einen schwierigen Weg begeben und dabei für ein Umfeld sorgen, in dem Menschen Fehler machen können, ohne das dies existentielle Folgen hat.

Literatur

Dean, Jasmin/Stützel, Kevin: „Es muss was passieren!“ Empowerment aus der Perspektive von People of Color und Kritische Reflexion von Weißsein in der politischen Bildungsarbeit. in: Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben (Hrsg.): Wohin mit der interkulturellen Bildung?, Hamburg 2009.

Foitzik, Andreas/ Pohl, Axel: Das Lob der Haare in der Suppe. Selbstreflexivität Interkulturelle Öffnung. in: Wiebke Scharathow, Rudolf Leiprecht (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach 2009.

Guitiérrez Rodriguez, Encarnación: Intersektionalität oder: Wie nicht über Rassismus sprechen? in: Hess, Sabine/Langreiter, Nikola/Timm, Elisabeth (Hrsg.): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen, Bielefeld 2011.



Beate Flechtker ist politische Bildnerin im Bereich Macht- und Rassismuskritik und DaF-Dozentin. Alice Stein ist Sozial- und Theaterpädagogin. Urmila Goel, Kultur- und Sozialanthropologin, arbeitet als Autorin und Trainerin mit den Schwerpunkten Migration, Rassismus und Heteronormativität.

© Urmila Goel, Beate Flechtker und Alice Stein, urmila.de / Informationen 2013